Hans
Bentzien: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte - Verlauf
- Hintergründe, edition ost, Berlin 2003, 214 Seiten
in Semester-Spiegel
Juli 2003
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17. Juni 1953: Der Tag der Deutungen
von Thomas Günther
Endlich ist es überstanden. Diverse Radiofeatures sind gehört. Ca. 40 Stunden Fernsehberieselung (von Spielfilm- bis zu Dokumentationsformaten)
sind gesehen. Mindestens sechs Buchneuveröffentlichungen und Sonderseiten
in vielen Tageszeitungen sind weggelesen. Die Aufmerksamkeit zum 50. Jahrestag
des 17. Juni war wesentlich größer als zum 70. Jahrestag der
Bücherverbrennungen (10. Mai 1933; für alle die es nicht mitbekommen
haben), an denen die deutschen Universitäten (insbesondere die faschistischen
Studierendenorganisationen) nicht unwesentlich beteiligt waren. Tatsachen,
derer leider nur wenig gedacht wird. Grund genug sich mit zwei Büchern
zum 17. Juni zu beschäftigen.
Der 17. Juni ist als Ereignis immer umstritten gewesen. Jede Seite hatte
ihre instrumentalisierte Interpretation. In der DDR wurde er hoch offiziell
als faschistischer Putschversuch gewertet. Die BRD machte
aus dem Tag des Aufstandes der Arbeiter im Osten einen Feiertag für
den Westen. Motto: "Tag der Deutschen". Just wurde in Berlin
die Straße, die von Westen her auf das Brandenburger Tor zuführt
in die "Straße des 17. Juni" umbenannt. Seitdem ritualisierte
sich in der Bundesrepublik ein Gedenken.
Die Interpretation als "Tag der Deutschen" ist jedoch mehr
als fraglich. Die Arbeiter im Osten standen an dem Tag an der Maschine,
während die im Westen ins Grüne fuhren. Interessant ist die
Perspektive von 1953, nicht die interessengeleiteten Umdeutungen, die
im Laufe der Jahre passieren. So ging es den streikenden Arbeitern in
der Zone im wesentlichen um Probleme innerhalb der DDR: Anlass
waren die um 10% erhöhten Produktionsnormen - also praktisch eine
Lohnkürzung - und gestiegene Preise. Es war kein Aufstand mit dem
Ziel der deutschen Einheit im Sinne Adenauers.
Hans Bentzien erinnert in seinem Buch über den 17. Juni daran, dass
die Frage der Verhinderung der Deutschen Einheit nicht einseitig zu erklären
ist. Denn die Reklamation für ein Vorantreiben der Vereinigung seitens
des Westens Deutschlands, wie sie 1990 durch den faktischen Anschluss
der DDR an die BRD (nach Art. 23 GG) umgesetzt wurde, war Anfang der 50er
Jahre noch nicht vorhanden. Diese wurde auch in dem (später nicht
mehr gesungenen) Text der DDR-Nationalhymne gefordert. Bentzien liest
sich eher so: Die BRD habe die Angebote zur deutschen Vereinigung, die
vom Osten gemacht wurden, abgelehnt.
In diesem Zusammenhang verweist er darauf, dass mit der Gründung
der Bundesrepublik und der Einführung der D-Mark vollendete Tatsachen
geschaffen wurden. Die Westbindung war wichtiger als die Einheit. Jedoch
kann auch an der Aufrichtigkeit der Vorschläge des Ostens gezweifelt
werd en: Schließlich musste jedes Bemühen um die deutsche Vereinigung
an der Frage des politischen Systems einer so geschaffenen Republik scheitern.
Die Wiedervereinigung war also von beiden Seiten mit einem Automatismus
der Ausdehnung ihres politischen Systems verbunden.
Manche Zusammenhänge lassen sich nur erklären, wenn in der
Geschichte bis zu den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges zurückgegangen
wird. So beginnt Bentzien mit seiner Beschreibung nicht erst am Vorabend
des 17. Junis. Er schildert den Zustand der Politiker der DDR. Viele von
ihnen wurden im Dritten Reich verfolgt und mussten fliehen. Einige von
ihnen witterten daher an vielen Stellen faschistische Verschwörungen,
die so nicht bestanden.
Des weiteren waren durch die wesentlich deutlichere Entnazifizierung
als im Westen große Teile der Wirtschafts- und Verwaltungseliten
in der DDR nicht mehr vorhanden. Dies bedeutete - neben einem fehlenden
Investitionsprogramm und dem zunehmenden Abgang vor allem der fähigen
Leute in den Westen - eine wesentliche wirtschaftliche und politische
Schwächung. Walter Spitzbart Ulbricht war ein Anhänger
des so genannten "beschleunigten Aufbaus des Sozialismus". Gemeint
war damit die Schwerindustrie zuungunsten der Konsumindustrie aufzubauen,
was zu erheblichen Unzufriedenheiten in der Bevölkerung führte.
Bentzien kritisiert, dass in dieser Situation von der Regierung der DDR
immer häufiger persönliche Fehler von Einzelnen für die
Probleme verantwortlich gemachte wurden, anstatt sie als strukturelle
Probleme zu erkennen.
Für die Bewertung des 17. Juni als "faschistischen Putschversuch"
- was bis 1989 offizielle DDR-Version blieb - wurden trotz intensiver
Suche es keine Beweise gefunden. Es darf aber nicht unterschlagen werden,
dass es zu rechtsextremen Umtrieben kam. So wurde damals an mehreren Orten
das Deutschlandlied in allen Strophen gesungen. Des weiteren gilt es zu
berücksichtigen, dass die deutsch-polnische Grenze an Oder und Neiße
zu der Zeit von der BRD nicht anerkannt war. Die Einstellung der Konservativen
in dieser Frage änderte sich erst 1990.
Der RIAS Berlin (Rundfunk im amerikanischen Sektor) -"Eine freie
Stimme der freien Welt" - spielte bei den Ereignissen im Juni 1953
eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Für Egon Bahr - damals
Redakteur des Senders der US-Armee -hatte der RIAS die Funktion eines
Katalysators für die Unruhen. Bentzien geht da viel weiter und meint,
der Sender habe die politischen Forderungen in die Ereignisse hineingetragen.
Ein Schlüssel zur Bewertung liegt in der Fragestellung, wann die
Anweisung von der US-Armee gekommen ist, nach der sich der RIAS mäßigen
solle, da eine Erwärmung des Kalten Krieges befürchtet wurde.
Bahr terminiert diesen Eingriff auf den 16. Juni. Bentzien meint, es müsse
später gewesen sein.
Das Buch von Bentzien beleuchtet Aspekte und Zusammenhänge, die
leider sonst etwas zu kurz kommen. Bei der allgemeinen Verklärung
der Ereignisse vom Juni 1953 als allumfassend positiven Volksaufstand
gegen ein Unrechtsregime (in manchen Darstellungen sogar als Revolution
bezeichnet!) sei auch an den randalierenden Mob erinnert. Diesen ordnet
Bentzien dem Westen zu, was jedoch nicht zu verabsolutieren ist. Aus dem
Mob heraus gab es Anzettelungen zu Schlägereien und es kam sogar
zu Lynchmorden. In der heutigen Darstellung werden die negativen Seiten
der Aufständigen gerne unterschlagen. Stattdessen wird das sowjetische
Militär brutalstmöglich dargestellt, wobei dieses relativ besonnen
eingriff (soweit Militär dies überhaupt kann). Wesentlich härter
demgegenüber war die juristische Aufarbeitung der Ereignisse
in der DDR.
Wichtig ist, dass die Ereignisse des 17. Juni nicht isoliert betrachtet
werden, wodurch sie allzu häufig aus der heutigen Perspektive in
eine sehr reduzierte Deutung geraten. Eine formale Schwäche des Buches
von Bentzien besteht darin, dass einige Abkürzungen nicht eingeführt
sind. Ein inhaltliches Problem besteht in der unzureichenden Distanzierung
von polizeilichen und militärischen Aktion. So macht zwar der Lebenshintergrund
des damaligen Ministers Fritz Selbmann, von den Faschisten 13 Jahre in
Zwangsarbeit und KZ gebracht, die individuelle Härt e verständlich,
mit der er streikende Arbeiter in einem Betrieb mit dem Leben bedrohte,
wenn sie nicht sofort ihre Arbeit aufnehmen würden. Ein Rechtfertigungsgrund
ist dies aber nicht. Wo ist der gesellschaftliche Fortschritt, den die
DDR für sich reklamierte, wenn Menschen unter vorgehaltener Waffe
zu Arbeit gezwungen werden?
Auch Stefan Heym, der auf seine späten Tage noch Alterspräsident
des Deutschen Bundestages wurde und dessen Name erst im polnischen Exil
auf einer Postkarte an seine Eltern entstand, war einer der Verfolgten
in Nazi-Deutschland. 1945 kehrte er in einer Sergeantenuniform der US-Armee
zurück. Doch die Untersuchungen "unamerikanischer Umtriebe"
unter McCarthy bewegten ihn zu einer Übersiedlung in die DDR. Dort
konnte sein 1974 erschienener Roman 5 Tage im Juni erst nach 1989 gelesen
werden.
Heym schildert darin die Widersprüche im Arbeiter- und Bauernstaat,
in dem sich Arbeiter gegen ihre Regierung richteten. Über das Buch
sei nicht viel verraten, nur soviel: Es ist spannend geschrieben und ebenso
zu lesen - nicht zuletzt wegen einer Liebesgeschichte. Um dies zu lesen,
hätte es allerdings den ganzen Rummel um den 50. Jahrestag des 17.
Juni nicht bedurft. Das Gedenken fiel in eine Zeit, in der an jedem Tag
von neuem überlegt wird, an welcher Stelle Sozialleistungen gestrichen
werden können. Dabei hätten die Erinnerungen an den Tag zeigen
können, wie sich die Arbeitnehmer damals gewehrt haben: Die Normerhöhungen
wurden schließlich zurückgenommen.
Hans Bentzien: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte - Verlauf - Hintergründe,
Berlin 2003, edition ost, 214 Seiten, 12,90
Stefan Heym: 5 Tage im Juni, Roman, Gütersloh 1974, C. Bertelsmann,
383 Seiten, Flohmarkt- oder Antiquariatspreis
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